Endstation Hoffnung

Für das Abitur zu lernen ist schon etwas Schlimmes. Man fühlt sich irgendwie komisch. Tausend Dinge gibt es, die man noch erledigen muss. Auf die Bank gehen, bei der Versicherung den Vertrag abgeben, Zahnarzttermin machen, nach dem neuen Film von John Connery in der Videothek suchen, endlich den Wandkalender aufhängen, Konzertkarten sortieren, CDs wieder in ihre Hüllen machen - natürlich ist das ziemlich wichtig, zwar nicht wichtiger als das Abi, aber das sind ja alles Dinge die ganz schnell gehen. Ruckzuck und sie sind erledigt... Denkt man so! Kaum hat man sich versehen und schon ist es wieder abends. Noch schnell mit ein paar Freunden Bier trinken gehen (gehört sich so für angehende Studenten). Man möchte ja schließlich nur wegen des Abiturs nicht seine sozialen Bindungen verlieren, die gehören ja auch zu einer allgemeinen Bildung. Und diese soll wohl mit dem Abitur bescheinigt werden. Lisa redet fortwährend von Lerndepressionen. Sie habe das komische Gefühl arbeitslos zu sein und auf etwas Unbestimmtes zu warten. So ist die allgemeine Stimmungslage. Wenigstens geht es allen gleich. Und eigentlich ist es wie immer. Ein paar Streber sitzen schon seit Monaten über ihren Büchern und verlassen das Haus höchstens um mit dem Hund Gassi zu gehen. Dann gibt es den Teil der Leute, die auf dem Standpunkt stehen: "Lernen? Ich doch nicht..." In Wirklichkeit wird fleißig geübt, aber das zuzugeben wäre ja uncool. Und es gibt uns. Wir, die wirklich mal Lernen wollen. Wenigstens einmal in der Schullaufbahn. Und wir geben uns die größte Mühe. Aber das ist so, wie wenn man einen unsportlichen Talkshowgucker und dabei Chips-in-sich-hinein-Fresser zu einem Marathonlauf bringen möchte. Er hat die größte Not, vollkommen ohne Training auch nur die ersten Kilometer hinter sich zu bringen. Talkshows, auch so eine Sache. Eigentlich immun gegen solche Formen der, na ja, Unterhaltung, konsumiert man sich von der "Entscheidung am Mittag" bis zur Vorabendtalkrunde nahezu komplett durch. "Unglaubliche Gäste bei Andreas..." - da erzählt gerade eine junge Tussi über ihre erste eigene Wohnung. Unordnung total, endlich Freiheit - die Aufnahmen der Kamera aus ihrem kleinen Zimmerchen mit der hellgelb-orange-chromoxidgrün-grün-gestreiften Tapete lassen erahnen, wie sie sich ohne Eltern fühlen muss. Ziemlich überfordert! Ich beschließe, wenn es mit dem Abi nichts werden sollte, wissenschaftlicher Berater für Talkshowtiefenpsychologie zu werden. Danach schlucke vier Johanneskraut Tabletten aus dem Aldi, nur ein mental ausgeglichener Körper kann leistungsfähig lernen, meint zumindest der Autor einer Lernhilfe. Und Lisas Lerndepressionen - nein danke. Ein paar Blicke in die Ausgabe 2/87 von "Geschichte mit Pfiff". Ich mache mir schon Gedanken um meinen Geburtstag. Der vorletzte Prüfungstag überhaupt, die meisten sind schon in der ersten Abiturwoche fertig. Ich nicht aber der Gedanke an gut gelaunte Mitschüler, die ihr Abi hinter sich haben und mir überschwänglich zum Geburtstag gratulieren erfreut mich. Wissend dass es ausgerechnet jetzt sein muss, sortiere ich all meine Pullover nach der Farbe. Man muss es endlich mal in Angriff nehmen, der Zeitpunkt ist nie günstig, denke ich. Nach einer Kurzschlafpause zur Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts, geht es wieder an den Schreibtisch. Honecker und Brandt, Trumans Politik und der Marshall-Plan. Wie schön wäre es, wenn man sich in die Zeit zurückversetzen könnte und die Tagesschau ansehen würde. Von ganz allein hätte man das gesamte Wissen. Nach drei Stunden des Lesens im Abiturtrainingsbuch mit dem der momentanen Situation nicht ganz angepasstem Untertitel "Steck' den Pauker in die Tasche" mache ich mich auf den Weg in die Innenstadt. Einfach ein Glas Wein trinken, unter Leuten sein. Schauen. Ich treffe Maria, Anna und Daniel. Wir beschließen Themen die das Abitur betreffen schlichtweg für den heutigen Abend zu ignorieren. Stattdessen geht es 25 Minuten darum, ob man mit der Zahncreme "Ajona" gegen Rauchermundgeruch vorbeugen kann oder eben nicht. Bis Katja unseren Tisch entdeckt und den Bann bricht: "Wie weit seit ihr bisher mit dem Lernen gekommen? Ich komm gar nicht voran!" Von nun an kennt die Runde kein anderes Thema mehr. Ich trotte nach Hause, versuche noch ein Kapitel zu Ende zu lesen. Klappt nicht. Muss man auch einsehen. Die Uhr zeigt 23:43. Vor lauter Langeweile rufe ich bei der Karstadt/Hertie AG an, die schreiben immer so freundlich auf ihre Kassenzettel Sätze wie "Sie rufen an, wir gehen ran". Das Ergebnis ist aber eher enttäuschend, man freut sich zwar angeblich über meinen Anruf, aber nicht persönlich. Nur vom Band. Ich gehe ins Bett und hoffe auf den nächsten Tag. Wie jeden Tag, vor dem Abitur.

von Martin Müller

 

 

 

 

Abi 2001 - das Leben danach

Abitur: grausam gigantisch hatte es geklungen. Dieses Wort, das an von Angstschweiß getränkte, verbrauchte Luft, rauchende Köpfe und symmetrische Dextroenergenberge samt Sprudelflaschen auf den Tischen erinnert. 13 Jahre hat man daraufhingearbeitet, 8 Jahre lang Lehrermonologe ertragen und sich morgens um 6:30 Uhr aus den Betten gequält. Die ganze Zeit über Briefchen im Unterricht geschrieben, Stunden gestemmt und die Lümmel in der letzten Reihe beäugt. Und jedes Jahr beobachtet, wie eine neue Generation von Abiturienten in der Zeit um Ostern herum erst zitterte und sich danach überschwänglich angeheitert dem exzessiven Alkoholgenuss hingab. Ein seltsames Phänomen verklärt grinsender Absolventen der sogenannten "Reifeprüfung", wie es die Vertreter etwas älterer Generationen zu nennen pflegen, tritt jedes Jahr wieder zur selben Jahreszeit auf und hat in der 13. Klasse wohl nicht ausschließlich etwas mit Frühlingshormonen zu tun. Bisher konnte man dies getrost mit dem infantil- naiven Augenaufschlag jüngerer Jahrgänge betrachten, doch plötzlich ist es an uns: Das Abitur beginnt und wir sind dabei.
Beschäftigt sich der Abiturient in den Wochen vor dem großen Ereignis mit etwas Fachfremdem, sollte er dies wirklich vor seinem Gewissen verantworten können, so sind es Planungen Partys betreffend. Flyer, Plakate und Mundpropaganda treiben ihr Unwesen in Stadt und Schulen und vermehren sich mit für Mendel sicherlich erstaunlicher Geschwindigkeit. Eher nebensächliche Bedeutung hat da das Lernen an sich. Doch sollte man nicht etwa denken, die Schüler im nun wirklich neuen Jahrtausend seien faul, im Gegenteil: "Sie sind selbstbewusst, ohne überheblich zu sein. Sie sind zielstrebig, ohne verbissen zu sein: Die Abiturienten des Jahrgangs 2001.", wird man gegen Ende der Ferien noch von der wie stets zur Übertreibung neigenden Zeitschrift Stern motiviert, um die letzten Reserven aus den ausgemergelten, jugendlichen Körpern zu holen. Ja, es ist wahrhaftig nicht leicht, Schüler zu sein. Lerntaktiken werden in der Oberstufe längst nicht mehr gelehrt und somit steht man noch so gar nicht reif vor der Herausforderung, zwei Wochen Ferienzeit mit Seinesgleichen und den vom Kultusministerium vorgeschriebenen Stoffmengen zuzubringen. Unbeschwertheit ist in diesem Zusammenhang wohl die falsche Beschreibung und da geteiltes Leid halbes Leid ist, erfreuen sich sogenannte Lerntreffen großer Beliebtheit. Doch dass derartige nachmittägliche Begegnungen in sturmfreien Wohnungen guter Freunde wirklich zum Lernerfolg beitragen, haben wohl auch schon vorher nur die einfältigsten Eltern geglaubt. Die Zeit wird vielmehr zum gegenseitigen Austausch über unglückselige Begleiterscheinungen, die die anhaltende intellektuelle Betätigung mit sich bringt, genutzt: Kopfschmerzen sind bei jedem an der Tagesordnung, Ansätze von Rheuma aufgrund mangelnder Bewegung und Bauchschmerzen, durch einseitige Schokoladenernährung zwecks Frustbekämpfung verursacht, überzeugen jeden von der Unmenschlichkeit dieses Unterfangens. Selbst regelmäßige Bierkuren des Abends in Kneipen im Kreise einiger Mitleidenden der Stufe regen zwar stets leidige Diskussionen an, sind aber ansonsten nicht sehr produktiv.
Der Prüfungsstress erreicht seinen absoluten Höhepunkt, als man sich zu Beginn der Abiturklausuren in die höllische Atmosphäre der von langweiligen Unterrichtsräumen zu düsteren Folterkammern mutierten Klassenzimmer begibt, um den Gang zum Schafott anzutreten und endgültig das Können oder besser gesagt Nichtkönnen unter Beweis zu stellen. Hier bekommen Lehrer endlich die Gelegenheit, ihre wahren, sadistischen Neigungen ausleben zu können und sich am Grauen der ausgelieferten Schüler zu weiden, welche mit hochroten Köpfen verzweifelt versuchen, den Aufgabenstellungen einen Sinn zu geben. Doch verglichen mit den zuvor ertragenen Jahren der Qual, erscheinen die nun zu durchleidenden Stunden nicht übermäßig lang, zumal man zum ersten Mal in seiner Schülerlaufbahn wirklich den Eindruck erhält, sinnvoll beschäftigt zu sein.
Allgemeine Hochstimmung herrscht dann schließlich an sämtlichen Gymnasien bei denjenigen, die durch günstige Kombination der Prüfungsfächer schon nach einigen Tagen die neuerworbene Freiheit genießen können. Ein Gefühl überkommt das blutende Abiturientenherz, das sich nur schwerlich in Worte fassen lässt: Vergessen sind die Stunden der Qual, die man vor dem Schreibtisch verbrachte, während draußen die Frühlingssonne schien, vergessen die endlos erscheinenden Stapel von Büchern, Aufgaben und Sekundärliteratur, die bis zum tatsächlichen Termin noch nicht einmal um die Hälfte an Höhe verloren hatten, vergessen die Pein und alle mathematischen Formeln und Reimschemata. Man hat das Gefühl, wieder zum Leben zu erwachen, von den Toten aufzuerstehen und sich unter die wirklich Lebenden zu begeben. Und viele dieser wirklich Lebenden begegnen uns nach einem beschwingten Nachmittag, der zum ersten Mal nicht mehr unter dem Zeichen des Damoklesschwert stand, auf dem Weg ins Vergnügen. Nur die Hälfte der vorher als unentbehrlich angekündigten Szenetreffen ist zustande gekommen und zudem ist allenfalls ein Bruchteil der erwarteten Besucher erschienen. Einzig und allein Diskotheken erfreuen sich allgemeiner Beliebtheit und der DJ heizt eine in rage geratene, alkoholisierte Menge mit den Worten: "Abi 2001, es ist endlich vorbei, Leute!" an, worauf ihm zum Dank die Boxen an Lautstärke übertreffende Begeisterung entgegentönt. Doch während die einen augenscheinlich betrunken ihren Rausch auskurieren und so die vergangenen Wochen zu vergessen suchen, stehen auch viele Abiturienten am Rand. Lehnen sich, dem Geräuschpegel zum Trotz, sinnierend an die Wand, amüsieren sich friedlich und gelöst mit und über die wogende Menge auf der Tanzfläche und scheinen alle dasselbe zu denken: Abitur, was für ein grausam gewaltiges Wort. Und das soll es nun gewesen sein?

von Ute Scheunemann, Annerose Vetter

 

 

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