Das
Input-Output-Prinzip
Warum die Schule uns zu trivialen Lernmaschinen macht
Unterricht
an einem dämmrigen Oktobermorgen. Natürlich interessieren sich die Kinder
weniger für den Lernstoff als für das leuchtend rote Eichhörnchen, das gerade
flink auf dem Baum vor dem Fenster herumturnt... Nachdem das Tierchen ohnehin
die volle Aufmerksamkeit der Klasse hat, versucht der Lehrer auch daraus eine
Lektion zu machen: "Das Eichhörnchen hat einen roten buschigen...?"
"Schwanz!" antwortet ein Mädchen.
Richtig. Was hat die Schülerin nun über den Körperbau eines Eichhörnchens
gelernt? Nichts. Sie hat nur gelernt, auf eine bestimmte Frage die passende
Antwort zu geben.
Das wäre im Falle des Eichhörnchens weniger tragisch, wenn nur der Unterricht,
den der Lehrer kurz darauf wiederaufnimmt, nicht immerzu auf solche Fragen
hinauslaufen würde. Die Antwort ist genau festgelegt, weil sie der Lehrer
bereits wortwörtlich im Hinterkopf hat. Was der Schüler sagt, ist daran gemessen
eben richtig oder falsch. In der Schule sind solche Fragen durchaus üblich.
Wer clever ist, lernt dabei bestenfalls, auf jede Frage die "richtige", eben
die passende Antwort zu geben. Auf die Frage "Was ist 2 mal 3?" wird er antworten
"6", nicht aber "3 mal 2" oder "5 minus 1", obwohl das ja genauso korrekt
wäre. Wer clever ist, bringt die Antwort, die Punkte bringt.
"Man gibt
in der Schule doch nur die Antworten, die der Lehrer hören will. Wenn man
etwas sagt, das nicht genau dem entspricht, oder vielleicht auch richtig wäre
und vom Lehrer vielleicht nur nicht verstanden wird, heißt das gleich soviel
wie "setzen, 6!" Es gibt bei uns leider nur wenige Lehrer, die sich überhaupt
mal auf etwas anderes einlassen als die schon bekannten und hundertmal gepaukten
Lösungen."
Oliver, 17, Wuppertal
Das Problem
Nun ist es ja das gute Recht jedes Schülers, in der Schule erfolgreich sein
zu wollen. Bedenklich ist dabei nur, dass sich dieses Ziel vom ursprünglichen
Sinn der "Bildung" immer weiter entfernt hat. Ihr Zweck ist es, den Jugendlichen
mit einem allgemeinen Faktenwissen auszustatten und vor allem mit der Fähigkeit,
dieses anzuwenden, selbständig zu denken und bei Problemen Lösungswege zu
finden. Schließlich hat man uns gesagt, wir lernen fürs Leben, nicht für die
Schule! Außerhalb des Unterrichts gibt es aber für die wenigsten Probleme
und Fragen "die" richtige Antwort. Der junge Mensch wird nun entweder mühsam
umlernen müssen und das anerzogene Schema von richtig und falsch über Bord
werfen, oder er sucht sich auch außerhalb der Schule Autoritätspersonen, die
ihm weiterhin vorschreiben, was richtig und was falsch ist...
Lernen in einem solchen Bildungssystem gleicht eher einem Dressurakt als wirklicher
Bildung - der Schüler wird zur berechenbaren Lernmaschine trivialisiert.
"Irgendwie
traut sich von den Schülern keiner, was zu fragen, aus Angst, die Unwissenheit
könnte sich negativ auf die mündliche Note auswirken. Und sich für eine Aufgabe
zu engagieren, ohne dass sie durch entsprechende Punkte belohnt wird, das
will sowieso keiner. Man hat ja als gestreßter Gymnasiast oft nicht die Zeit,
um arg viel mehr zu machen, aber ich glaube, die meisten sind einfach so in
einem Trott drin, sie lassen sich möglichst viel vom Lehrer vorkauen und sich
nicht offen für Projekte."
Nina, 17, Fürth
"Mir ist
das aufgefallen, dass es bei uns im Gymnasium nicht darum geht, etwas Neues
zu lernen, sondern eher um Noten und Abitur, was so gut wie gar nichts mit
Wissen und Lernen zu tun hat. Die Anfangsidee der Schule als ein Ort, wo man
gemeinsam das Wissen erwerben kann, ist pervertiert worden. Die Lehrer sehen
das Problem so gut wie gar nicht. Um die Schüler zu motivieren (eher zu zwingen)
besser zu lernen, wird ihnen meistens gesagt, dass sie das Abitur nicht schaffen
und nicht, dass sie dumm sein werden."
Iana, 19, Köln
Von Menschen
und Maschinen
Der Begriff "Maschine" meint hier natürlich kein Gefüge aus Zahnrädern und
Schrauben - er bezeichnet die Art, wie ein System, lebendig oder leblos, funktioniert.
Alle Maschinen, die wir Menschen herstellen, sind "trivial": vom Auto über
den Toaster bis hin zur Waschmaschine. Auf einen bestimmten Reiz reagieren
sie immer gleich, ihre "Verhaltensweise" ist berechenbar. Es wäre ja schlimm,
wenn wir im Auto auf die Bremse drücken und es reagiert mit Vollgas!
Wir arbeiten lieber mit trivialen Maschinen, weil bei ihnen die Beziehung
zwischen Input (Reiz, Ursache) und Output (Reaktion) eindeutig festgelegt
und vorhersagbar ist. In der Landwirtschaft behandeln wir auch die Natur als
triviale Maschine: Wenn ich heute pflüge, habe ich morgen Brot. Das ist leichter,
als einem System eine gewisse Autonomie zuzusprechen, was die Arbeit mit ihm
wesentlich komplizierter machen würde. Wir neigen dazu, unsere Umwelt zu trivialisieren,
weil wir damit schneller Ergebnisse erzielen - auch wenn das langfristig zu
Problemen führt.
"Es kann
nur Ziel einer Schule sein, den Schülern logisches Denken beizubringen, und
die Funktion des logischen Denkens fällt klar in den Bereich der trivialen
Maschine. Menschen, bei denen es keine Regeln gibt, die Input und Output verknüpft,
sind nicht in der Lage, ein funktionierendes soziales System zu bilden."
Katja, 18, Augustfehn
Nichttriviale
Maschinen haben, wie ich bereits angedeutet habe, eine Art Innenleben, das
ihre Reaktion beeinflußt. Der Unterschied zur trivialen Maschine ist, dass
nicht allein der Input, sondern auch die vorausgegangenen Arbeitsgänge, die
"Erfahrungen", den Output bestimmen. Die selbe Frage wird möglicherweise zu
einem späteren Zeitpunkt anders beantwortet. Anders könnte man sagen: Nichttriviale
Maschinen sind lernfähig, und ihre Reaktionen sind nicht ohne weiteres vorhersagbar.
Der Mensch, das wird jeder spontan zugeben, ist lernfähig und sein Verhalten
nicht ohne weiteres vorhersagbar wie eine triviale Maschine. Und doch wird
der Schüler durch unser Bildungssystem so behandelt!
Bei Prüfungen werden ja in erster Linie auswendiggelernte Antworten abgefragt.
Offene Fragestellungen sind die Ausnahme, weil ihre Bewertung natürlich viel
schwieriger ist. Erfolgreich schneidet der ab, der einfach den vereinbarten
Output abliefert. Man könnte auch sagen, Tests sind Instrumente, um das Maß
der Trivialisierung festzulegen. Ein gutes Ergebnis in der Abfragearbeit bedeutet,
dass der Schüler nun völlig berechenbar ist, nichts in Frage stellt und in
die Gesellschaft entlassen werden kann, ohne Überraschungen oder Schwierigkeiten
zu bereiten. Aber ist er auch fähig selbstständig zu denken?
"Meiner
Meinung nach ist das so, jedenfalls vom marxistischen Standpunkt aus gesehen,
(den aber nicht jeder teilen wird) dass wir in einer kapitalistischen Gesellschaft
leben, in dem die aktuelle Demokratie und der Rechtsstaat nur scheinbar sind,
weil diese ja bekanntlich alles der Marktwirtschaft unterliegt. Daraus folgt,
dass in solchen grundsätzlichen Vorgängen wie die Wirtschaft eines Landes
nicht das Volk bestimmt, sondern der Markt. Daher ist es für den kapitalistischen
Staat, der ja den Interessen der Marktwirtschaft unterliegt, wichtig Menschen
zu erziehen, die nach dem Prinzip Input-Output funktionieren, nicht von alleine
denken können und dieses System nicht in Frage stellen."
Oriol, 18, Barcelona
Die Folgen
Dass so wenige Jugendliche an Politik interessiert sind oder sich in Projekten
engagieren, kann man dem allgemeinen Sittenverfall, der schwindenden Glaubwürdigkeit
eines Kanzlers, der bei "Wetten dass...?" auftritt, oder RTL 2 zuschreiben.
Ist es aber verwunderlich, dass Schüler, die bisher nur gelehrt wurden in
Klausuren gut abzuschneiden, dass diese jungen Menschen auch später nur auf
ihren unmittelbaren Nutzen hin handeln werden? Ist es verwunderlich, dass
Schüler, die in der wichtigsten Lernphase ihres Lebens nie Widerspruch eingelegt
haben, sich auch später mit der Bevormundung durch Vorgesetzte oder Politiker
abfinden werden?
Viel zu wenige Lehrer lassen sich doch auf eine ernsthafte Diskussion mit
Schülern ein. Sie meiden oder verbieten sogar Fragen, deren Antworten sie
selbst nicht so genau kennen, vielleicht aus Sorge um ihre Autorität. Dabei
sind es doch gerade solche Gespräche - die gemeinsame Suche nach einer Lösung
- die uns alle weiterbringen, und bei denen der Schüler wirklich etwas lernt.
Wenn Lehrer weise genug sind mit der eigenen Unkenntnis umzugehen und einzugestehen,
dass es die absolute Lösung nicht gibt, lernen Jugendliche mehr Vertrauen
in das eigene Urteils- und Denkvermögen zu setzen. Sie werden auch weniger
auf falsche Vorbilder oder Ideologien hereinfallen, die sich im Besitz der
absoluten Wahrheit glauben, und grundsätzlich Autoritäten gegenüber ein gesundes
Mißtrauen entgegensetzen.
Einsicht
ist der erste Weg...
Es wäre ungerecht zu sagen, die Unterrichtsformen hätten sich in neuerer Zeit
nicht verbessert. Die Projektarbeit an offenen Fragestellungen, die eigenständige
Recherche hat vieles an Auswendiglernerei verdrängt. Langsam, sehr langsam
nimmt die Enttrivialisierung Formen an. Doch sei es Seminarkurs oder Agenda-Projekt,
wer sich für solche alternativen Lern- und Lehrmethoden einsetzt, gerät immer
noch in Schwierigkeiten. Einerseits muss er dauernd den Lerneffekt gegenüber
der herkömmlichen Input-Output-Methode rechtfertigen. Das Konzept will gut
durchorganisiert sein, denn ein Reinfall gibt nur wieder den konservativen
"ich hab's doch gleich gesagt"-Leuten Recht und bedeutet einen Rückschlag
für alle progressiven Lernexperimente. Andererseits wird er als Lehrender
unter Umständen mit der Unbeholfenheit trivialisierter Schüler konfroniert,
die es jahrelang mit einfachen Frage-Antwort-Gefügen zu tun hatten und auf
einmal improvisieren müssen.
Andersherum darf man natürlich nicht nur den Lehrenden die Verantwortung in
die Schuhe schieben. Es hängt auch vom Schüler ab, inwieweit er sich zum ewigen
Ja-Sager erziehen lässt, was "Bildung" für ihn bedeutet und was er ganz allgemein
aus seinen Chancen macht. Und es geht hier nicht allein um Schule: Seine Einstellung
wird ihn auch in seinem weiteren Leben prägen. Und wer will seinem Ruf als
"triviale Maschine" schon alle Ehre machen?
von Sybille Schmidt