Keine- Eine- Art der Problembewältigung

Anja hasst ihre Fingernägel. Während andere Mädchen in ihrem Alter Stunden des Tages mit Feilen, Polieren und Lackieren verbringen, hasst Anja sie nur. Und schneidet sie kurz. Ganz kurz. Sie sehen meist wie völlig abgekaut aus oder ähneln denen Anne-Sophie Mutters. Aber das stört sie nicht. Denn sie muss den Geruch nicht mehr ertragen. Fingernägel oder die Bereiche unter den Nägeln fangen nämlich Gerüche auf wie kaum ein anderer Platz des Körpers. Speichern sie, reproduzieren, rufen Erinnerungen wieder auf den Plan. Jedes Mal, wenn Anja die Hand zum Gesicht hebt, riecht sie es wieder. Säuerlich, ekelig, widerwärtig. Abstoßend. Und dann hasst sie sich selbst. Denn sie weiß, dass sie es an diesem Tag wieder nicht geschafft hat.
Dinge, die für den Großteil der Menschen ganz alltäglich sind. Dinge wie morgens aufzustehen, zu duschen, sich anzuziehen. Bei Anja läuft das anders. Leider. Und schon seit ein paar Jahren. Die Schuld dafür möchte sie niemandem geben, außer sich selbst. Weil sie sich selbst hasst. Hassen ist eines ihrer Lieblingswörter: "Du hasst mich, er hasst mich, sie auch, die anderen sowieso". "Keiner mag mich, ich habe es ja auch nicht verdient..." wären Synonyme dafür. Dass diese Einstellung gefährlich ist, hat Anja leider erst zu spät erkannt. Als sie zurückwollte und nicht mehr konnte. Als sie erfuhr, dass ihr Körper in der Lage ist, ein Eigenleben zu entwickeln, das sie nicht mehr kontrollieren kann.

Wenn Anja von der Schule nach Hause kommt, ist sie gestresst. Ziemlich gestresst und genervt. Nicht von den Tätigkeiten der Schule an sich, sondern von den 100.000 kleinen Kämpfen, die sie bestanden hat und auch den ganzen Tag weiterhin bestehen muss. Oder auch nicht.
Der Tag beginnt für sie immer mit dem Vorsatz, es heute zu lassen. Da sie weiß, dass sie nicht in der Lage ist, normal zu essen, lässt sie es lieber gleich. Und isst gar nichts. Nicht am Morgen zum Frühstück, nicht in der Schule. Zum Mittagessen ein wenig: Salat, Gemüse, Kartoffeln, wenn es gut läuft und sie es sich zutraut. Auf Nachtisch verzichtet sie sowieso. Hört auch auf zu essen, wenn sie bemerkt, dass es zuviel wird. Denn dann setzt sich ein Teufelskreis in Gang.
Früher, als sie mit 16 Jahren bemerkte, dass der pubertäre Wachstumsschub aussetzte und sie begann in die Breite, nicht mehr in die Höhe zu wachsen, wurde Anja aufmerksam. Sah sich um und dachte dicker, hässlicher und fetter als alle anderen Mädchen ihres Alters zu sein. Und da es sowieso viele taten, fing auch sie an, abzunehmen. Sich jedes Stückchen Schokolade nur als Belohnung zu gönnen. Eis vom Speiseplan zu streichen. Kalorien zu zählen. Übermäßig Sport zu treiben. Sich Nudeln zu verbieten und alles, was nur ansatzweise dick machen könnte. Und sie bemerkte mit Genuss, wie ihr Körper gehorchte. Sie nahm ab, wurde - sollte sie überhaupt einmal richtig pummelig gewesen sein - schlank und von jedem um die tolle Figur beneidet. Dieses Lob tat ihr gut. Alles in ihrem Leben lief, wie es ihrer Vorstellung nach laufen sollte: in der Schule und mit

ihren Freunden, an denen sie sehr hing. Auch mit ihren Eltern, die ihr praktisch jegliche Freiheit gewährten und in Bezug auf die diversen Hobbys, denen sie nachging. Und vor allem gehorchte ihr Körper ihr anstandslos. Problemlos und wie auf Wolke sieben schwebte Anja durch ihr Leben. Bis der Zufall es wollte und sie sich gleichzeitig mit ihren Eltern und ihren besten Freundinnen stritt. Für einige Tage schien ihr Leben aus den Fugen zu geraten und dies jagte ihr einen unglaublichen Schrecken ein. Als Ausweg aus der ihr unentrinnbar erscheinenden Falle tauchte nur ein Gedanke auf: "Ich muss dünner werden und sie werden mich alle wieder mögen." So geschah es, dass sie noch mehr abnahm. Ihr Leben kehrte natürlich wieder in geregelte Bahnen zurück und unglücklicherweise sah sie ihre Vermutung bestätigt: Gewichtsverlust = Kontrolle über ihr Leben.
Und so nahm die Geschichte ihren Lauf: Anja magerte ab, hungerte, wog bald nicht mehr als 41 Kilo, obwohl sie über 1, 75 m groß war. Das Essen wurde zur Qual, sie begann es zu hassen. Schon der Anblick eines gefüllten Tellers rief Ekelgefühle hervor. Sie hätte schreien können, wenn sie ihn nur vor sich sah. Schreien, wutentbrannt den Teller an die Wand schmeißen, um sich schlagen, Amok laufen. Doch stattdessen saß sie nur vor der eigentlich leckeren Lasagne und weinte. Weinte vor Verzweiflung. Weil sie keine Kraft hatte, sich zu wehren. Weil sie wusste, dass sie so oder so verlieren würde. Ein aussichtsloser Kampf gegen einen mächtigeren Gegner. Das anfängliche Glücksgefühl bei jedem verlorenen Kilo ließ zudem ebenfalls nach. Ehrlich gesagt ließen alle Gefühle in ihr nach. Sie spürte beinahe gar nichts mehr: weder Trauer noch Wut noch Freude. Ihr ganzer ausgemergelter Körper schien innerlich leer, nichts mehr darin. Gar nichts. Sie war einfach zu schwach. Hatte auch schon seit Monaten ihre Tage nicht mehr bekommen. Experten nennen so etwas Amenorrhöe. Die stehen ja über den Dingen.
Anja litt offensichtlich an Anorexie. Ernährte sich schließlich von zwei Tomaten täglich. Hat sich überhaupt schon jemand gefragt, ob Salz eigentlich Kalorien hat?
Doch sie änderte sich bald. Wie dieses Krankheitsbild sich bei vielen Mädchen ändert. Nicht bei allen, wohlgemerkt, aber so war es bei Anja. Sie hatte einfach nur panische Angst zuzunehmen. Längst schon war ihr aufgefallen, dass sie sich selbst mehr und mehr in eine Sackgasse manövrierte. Aber zunehmen? Dick werden? Ihren Lebensinhalt aufgeben? Das kommt Drogenentzug nahe. Dem Umfeld fiel sicherlich die krasse Gewichtsabnahme auf. Doch da ansonsten alles in Ordnung schien, machte keiner Anstalten, sie zu retten. Wovor auch? Ihre Noten waren herausragend, sogar noch besser geworden. Sie war beliebt, hatte viele Freunde und Bekannte und kam mit allen Menschen gut aus. Sie wirkte stets fröhlich, half, wo sie nur helfen konnte und strahlte eine unglaubliche Sicherheit und Gelassenheit aus. Anja strotzte nur so vor Energie. Doch innerlich war sie ein einziges lebendes Wrack. Kein Mensch. Sie hasste ihren Körper, jedes Gramm Fett an ihm, jede Faser, jedes leblose Haar. Jede ihrer Eigenschaften, jedes ihrer Worte. Hass war das einzige, was sie noch fühlen konnte. Das einzige Heilmittel, das diesen Hass mildern konnte, war nicht zu essen. Ihrem Körper weh zu tun. Ihm zu zeigen, wer schlussendlich die Fäden in der Hand hatte. Wer am längeren Hebel saß. Sie wollte triumphieren.

Doch sie verlor. Das ordinär Menschliche siegte. Der Trieb. Freud hätte sich die Hände gerieben. Anja konnte eines Tages dem natürlichen Bedürfnis nicht mehr widerstehen. Sie aß. Nicht etwa Schokolade oder Sahnetorte oder Chips oder ähnlich kalorienhaltiges, sondern Brot. Sie hatte seit ungefähr einem Jahren keines mehr gegessen und verspürte ein widerwärtig menschliches Verlangen nach Butterbrot. Und sie aß eines, aß ein zweites. Und sie ekelte sich vor sich selbst. So sehr, dass sie das Gegessene sofort wieder loswerden wollte. Sofort, so schnell wie möglich und mit einer Stunde intensivem Parkjoggen wäre es bestimmt nicht getan. Deshalb ging sie zur Toilette und steckte sich den Finger in den Hals. Übergab sich. Kotzte. Spie. Würgte. Wollte am liebsten noch ihr Innerstes erbrechen. Sie war ein Tier. Und sie war nicht dumm.

Stellte fest, dass sie tatsächlich essen konnte. Essen was sie wollte und dann erbrechen, um sich wieder zu rächen. Rache zu üben an den menschlichen Bedürfnissen ihres gewöhnlichen Körpers. So legte sie sich ungeahnte Taktiken zu. "Schichtung" nennen das die Experten. Die ja über den Dingen stehen. Sie wusste genau, was leicht wieder zu erbrechen war, wann sie mit viel Flüssigkeit, vorzugsweise Milch und Joghurt, ihrem Vorhaben den Weg ebnen konnte. Irgendwann reagierte ihr Abwehrsystem in keiner Weise mehr normal. Um den Brechreiz herbeizuführen, musste sie ihren Köper austricksen. Stellen im Rachenraum ausfindig machen, an denen er noch anschlug. Federn, schließlich brutal Löffelenden zur Hilfe nehmen. Andere Mädchen ihres Alters machten derweil Erfahrungen mit gleich- und natürlich getrenntgeschlechtlichen erogenen Zonen. Doch niemand genießt das Gefühl, sich zu übergeben. So triumphal Anja auch den Erfolg über ihren Gegner feierte, sie fühlte sich dreckig und benutzt. Schlichtweg grauenvoll. Der Hass war nicht kleiner geworden. Und Anja bemerkte, dass sie weder zu normalem noch anorektischem Essverhalten in der Lage war. Begann sie nur mit einem Stück Schokolade, setzte in ihrem Gehirn eine Sicherung aus. *Flopp*. Und sie begann in den Teufelskreis einzusteigen. Dachte an noch ein Stück Kuchen. Ein paar Chips. Gut, das war wieder zu viel, also kotzen. Aber vorher kann man die Gelegenheit doch nutzen. Wenn man schon kotzt. Heute das letzte Mal. Das allerletzte. Morgen wird sie damit aufhören. Denkt sie und stopft noch ein paar Marsriegel nach einer halben Milchtüte in sich hinein. Ihr Bauch spannt. Sie denkt sie platzt. Aber vor dem Kotzen... Es ist ja das letzte Mal. Morgen wird es einen Neuanfang geben. Sie wird es nicht mehr tun. Sie ist ja nicht dumm. Weiß um ihre Krankheit. Sie isst weiter. Kann nicht anders. Das ist das Fatale. Schließlich stirbt sie beinahe vor Schmerzen. Anschließend vor Scham. Weil sie wieder gekotzt hat. Ein ordinäres Wort, aber es charakterisiert den Tatbestand wohl am besten. Sie hat immer Tränen in den Augen. Der ganze Körper ist wie erschlagen. Kotzen ist anstrengend wie andere körperliche Aktivitäten auch. Ihre Stimme klingt auch stets rauchig. Und sie leidet an Dauerhusten. Ihre Mutter ließ letztens schon einen Kommentar, Asthma betreffend fallen. Begleiterscheinungen wie eine verätzte Speiseröhre und Karies lassen nicht mehr lange auf sich warten. Die Uhr tickt. Doch nicht die biologische.
Anja wäscht sich jedes Mal gründlich. Schrubbt das Gesicht, die Hände. Die Finger. Bis die Nägel übrigbleiben. Sie weiß, dass sie an dieser Stelle vergebens ihre Haut wundscheuert. Der kleine Bereich zwischen Nagel und Fingerkuppe riecht immer. Säuerlich... Magensäure. Und dann ist sie verzweifelt. Hasst sich selbst noch mehr. Verlässt das Badezimmer nach dem Lüften und setzt ihre Maske wieder auf. Die der starken Tochter, guten Schülerin, lieben Freundin. Ein völlig normales Mädchen von 17 Jahren. Man sieht ihr nichts an. Bemerkt höchstens einen seltsam angeekelten Gesichtsausdruck, wenn sie versehentlich die Hand zum Gesicht hebt. Aber wer achtet schon auf so etwas.

von Ute Scheunemann