Heilige Ordnung - Tagebuch eines Zimmers oder kleine Hommage an die Anarchie

Montagmorgen:
Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und das Paradies erblicken. Nämlich Ordnung. Seltene, friedliche Ordnung. Die gefällt mir eigentlich ganz gut. Jetzt, da sie da ist. Oma Hilde war gestern zu Besuch. Mamas Mutter, nicht Tante Ruth. Leider Gottes, denn Tante Ruth kann man so gut hintergehen. Sie hat meist nicht mehr Elan, als einen strengen prüfenden Blick in meine Räumlichkeiten zu werfen, einen lobenden Kommentar meinen Eltern gegenüber fallen zu lassen - "Gut habt ihr sie erzogen, die Kleine. Ihr Zimmer ist tadellos. Tadellos, sage ich!" - und sich wieder Kaffe und Kuchen zuzuwenden. Klasse, dass sie bisher nicht einen meiner Schränke geöffnet hat - fataler hätte ein solch friedlicher Familiennachmittag nicht enden können. Sämtliche Illusionen zerstört. Tanten, Omas und alle Anverwandten erschüttert. Genauso gut könnte ich schwanger werden oder mir ein fettes Tattoo auf die Nase pflanzen lassen können. "I love HIM" oder so etwas Ähnliches. Denn die mühsam zugepressten, nach Möglichkeit auch noch abgeschlossenen Schubladen und Türen, gleichen einer Wasserstoffbombe. Ein einfaches Drehen des Schlüssels zum Beispiel und innerhalb einer Millisekunde Bumm. Ein Regen bestehend aus flüchtig aufeinandergestapelten Blättern, gelesenen Zeitschriften, getragenen Klamotten, Stofftieren und allem Bastelmaterial, das sonst noch auf dem Boden herumfuhr. Zwanzig Minuten, bevor Tante Ruth überhaupt einen Fuß in Mums und Dads Bereich zu setzen pflegt, auf dem schnellsten Wege mit einem "Hokuspokus" verschwunden. Wenn man Glück hat, befindet sich nicht einmal etwas Halbvermodertes darunter. Aber wie besagt war es nun einmal Oma Hilde, die unsere Familie mit ihrem Besuch beehrte. Hildchen, der man nichts dergleichen vormachen kann. Eine Frau, die sich selbst im Alter von 83 Jahren noch auf die Knie hinunterlässt, um nach Staubflocken unter meinem Bett zu fahnden. Ihr kann man keine Verstecke verheimlichen - macht wohl die Erziehung und Erfahrung mit meiner Mutter und irgendetwas Positives muss man schließlich ja auch von seinen Erzeugern gelernt haben. Insofern befand sich mein Zimmer in einem Topzustand: Unterwäsche schön arrangiert, Socken nach Farbe und Material geordnet. Pullover exakt Rand auf Rand gelegt, man kam sich schon wie beim Bund vor, Hemden und Hosen auf Bügel gehängt, die verräterische Pille und Zigaretten, sowie unsittliche Boxershorts verschwunden, die neuste Cosmopolitan von letzter Woche verstaut und dafür Kafka und Heinegedichtbände in die Regale. Red Hot Chili Peppers, Alannis mussten ebenfalls fliehen. Alles für Oma. Hat mich einen ganzen Tag gekostet - den heiligen Samstag. Sonst sinnvoll zum Einkaufen mit Anne genutzt. Und die staunte, als am Samstagabend mein Teppichboden seit dem Einzug vor zwei Jahren wieder das Licht der Welt erblickte. Und, wie sie sagte, immer noch so schön himmelblau war. Nun ja, er hatte ja auch keine Chance, von der Sonne ausgeblichen zu werden.
Aber nun Montag, Oma ist wieder abgereist und ich lobe mich - um 50 Euro reicher - die wohlig gemütliche Ordnung meines Zimmers besehend. Ordnung ist etwas Wunderbares. Vielleicht sollte ich es dieses Mal länger durchhalten und die guten Vorsätze wirklich in die Tat umsetzen. Allerdings hat nun erst mal anderes Vorrang - diverse Tätigkeiten am Nachmittag ... mit Anne.

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Dienstagmorgen:
Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und ein Paradies erblicken. Das Zimmer, nein, immer noch stolz mein Zimmer genannt, befindet sich auch heute in einem tadellosen Zustand. Mehr oder weniger. Es hat sich bereits wieder ein kleines Häuflein Elend - sprich Mathehausaufgaben - auf dem Schreibtisch neben einer halbleergegessenen Packung Rocher und einem benutzten Glas angesammelt. Aber das ist nicht von mir, sondern von Anne. Und was kann ich dafür, dass sie nie ihre Sachen in Ordnung halten kann. Außerdem drei neue Bücher von Marei, die sie vergessen hat. Mein Schreibtisch eine muntere Sozialstation. Weiterhin auch Auffanglager für Mareis und Annes Versuche, sich die Fußnägel gestreift zu lackieren. Das Ergebnis fiese kleine eingetrocknete Seen der Marke Manhattan. Vor dem Bett kringeln sich sowohl Socken und Wäsche von gestern, als auch Stoffreste der Nähaktion der zwei gescheiterten Bodypainterinnen, die sich schließlich auf Modedesign spezialisierten. Wie dem auch sei, das lässt sich ertragen. Vielleicht findet sich ja heute Abend die Zeit, Aufräumen in den mit entschieden wichtigeren Dingen ausgefüllten Tagesplan zu setzen.

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Mittwochmorgen:
Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und ein Paradies erblicken. Nun gut, wir wollen ehrlich bleiben - es ist kein Paradies mehr, eher vielleicht ein paradiesähnlicher Zustand. Gestern hatten wir einen harten Tag und Marei ihr erstes Date mit Mark. Mark ist natürlich mal wieder ein Griff ins Klo, aber sie will es nicht wahrhaben. Und ist der festen Überzeugung, er wäre ein Brad Pitt Verschnitt. Wer will schon Brad Pitt? Marei jedenfalls. Und da es das erste Meeting war, starteten unser Kleeblatt eine ausführliche Klamottenberatungssession mit Styling und allem, was dazu gehört. Und wo? Bei mir natürlich, schließlich bieten sich aufgeräumtes Zimmer samt Kleiderschrank phänomenal gut für ein solches Unterfangen an. Und somit ist der Fußboden nun zur Hälfte bedeckt. Mit dem Inhalt meines Kleiderschrankes. Die Modenschau Mareis dauerte beinahe 3 Stunden, dann hatte sie sich entschieden. Und der Boden auch. Zum Abschied nämlich, vielleicht taucht er beim nächsten Besuch von Oma und Tante im Doppelpack wieder auf. Vorerst aber träumt er süß unter Tangtops, Miniröcken, H&M- Waren jeglicher Art, Hosen und Stiefeln. Anne war so klug, einen schmalen Gang zwischen Tür und Nachttisch mit integriertem Spiegel freizuhalten. Eine weise Entscheidung, wobei es ihr nicht um den Schutz der degradierten Kleider geht, sondern dank alltäglicher Erfahrung ein spontaner Entschluss für eine andere Kombination bei einem derart unschlüssigen Menschen wie Marei nicht auszuschließen ist. Und dieser Gang außerdem für die schnellen Spurts meiner Wenigkeit ins elterliche Badezimmer äußerst notwendig war, um die perfekte Frisur, das bestechendste Styling zu kreieren. Was uns schlussendlich auch gelang: Marei zog fröhlich mit Mark davon. Anne verschwand ebenfalls nach Hause und ich sah mich nur noch in der Lage, völlig erschöpft dem anspruchsvollen Inhalt von "Verbotene Liebe" zu folgen.

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Donnerstagmorgen:
Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und ein Paradies erblicken. Ein Paradies für Maulwürfe und kleines Viechzeug, das kein Mädchen gerne in seinem Zimmer als Untermieter hausen lässt. Ich musste mich nach einer ausführlichen Duschorgie erst einmal wieder mit meiner Behausung vertraut machen - my home eventually is my castle. Und eine halbe Stunde später hatte ich auch nach einem Tunnelbau durch den Wäsche- Mount- Everest - Anne war gestern mit ihrem Kleiderschrank hier eingezogen ("Ach, ich bin doch sowieso die meiste Zeit bei dir...!") - und dem Vergraben der Pausenbrote der letzten drei Tage ein beinahe faltenfreies T-Shirt gefunden. Dieser Zustand ist fast nicht mehr in Worte zu fassen: Der gartenarchitektonisch nett angelegte Gang vom Vortag hat schon längst sein Lebenslicht ausgeblasen. Seitdem regieren Wokpfanne, vier schmutzige Teller, unzählige Besteckteile und acht Gläser das Bild. Die Jungs waren auf Spontanbesuch gekommen und hatten unheimlichen Hunger. Es wäre Tierquälerei gewesen, sie vor der Tür stehen zu lassen, zumal sie an Alk gedacht hatten. Solch nette Vorboten des Wochenendes sind immer willkommen und Essbares kann frau ja schließlich auch aus den geringsten Resten zaubern. Allerdings hatten sich die Jungs nach der Schlacht um die letzten sauberen Gabeln nicht nur am Inhalt des Woks gütlich getan, sondern auch an meinen Wänden. Meine schon einige Monate alte Schnapsidee der Erweiterung des Ikea-Regalsystems wurde nun prompt umgesetzt, allerdings nur provisorisch. Dass sie zum Anbringen der Dübel nicht vorschriftsmäßig zwei Löcher in die Wand gebohrt, sondern ungefähr zehn Versuche benötigt hatten, störte sie dabei nicht weiter. Echte Männer müssen sich schließlich austoben und die Wand ähnelte nun einem Schweizer Käse. Der Boden war zudem mit einer leichten Putzschicht überzogen und mit ihm sämtlicher auf ihm residierender Plunder. Dieser hatte sowieso schon ein kurioses Eigenleben begonnen. Als die Wohnung gegen Abend glücklicherweise endlich still und verlassen lag, nur der Mond das tragische Spektakel beschien, begann die eigentliche Arbeit des Tages. Und zwei Stunden später war meine Kunstkreativkollage vollendet, der Boden jedoch mit mindestens fünf weiteren Lagen Papier, Zeitungen, Katalogen und Klebstoffen bedeckt. Somit musste er heute nacht wenigstens nicht frieren. Ich schlief nämlich bei geöffnetem Fenster, was mir angesichts der sich langsam aber sicher entwickelnden giftigen Dämpfe als reichlich sinnvoll erschien. Wer weiß, was Käse nach drei Tagen so alles anstellt, wenn man ihn mal alleine lässt.

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Freitagmorgen:
Aufwachen. Aufwachen, die Augen aufschlagen und ein Paradies erblicken. Allerdings leider nicht das meine. Das ehemalige. Das friedliche. Nein, stattdessen die Umrisse eines Wohnzimmers. Verwundert stehe ich auf. Weshalb ich die Nacht auf dem Sofa verbracht habe, kann ich mir nicht mehr erklären. Mein Bett war gestern Abend jedenfalls noch frei. Oder von mir freigeräumt worden. Ja, ich denke, das Letztere trifft den Sachverhalt um einiges besser. Aber dann schlägt mich die Erkenntnis beinahe zu Boden - auf den sauberen Boden. Denn der Typ, der da neben mir auf dem Sofa gepennt hat, spricht Bände für sich. Gestern haben wir den gesamten Tag bei Marei verbracht und ihr großer Bruder hatte es mir schon von jeher angetan. Ihr großer Bruder, seit gestern mein Freund. Der Grund, weshalb ich mit blendender Ausrede bei ihm bzw. Marei schlafen konnte. Friede, Freude, Eierkuchen multipliziert mit Verliebtheit. Ein herrliches Gefühl. Ein Gefühl mit dem man die ganze Welt umarmen, nur noch singen und pfeifen könnte. So auch ich, als ich mit der U-Bahn nach Hause fahre und die Wohnungstür aufschließe. In den Flur trete und meine Zimmertüre öffne. Besser gesagt versuche zu öffnen. Was sich anfangs als einen durch Bücher, Klamotten und Schuhe versperrten Zugang tarnte, entpuppt sich nun als abgeschlossener Eingang ins Himmelreich. Zu ein wenig Ruhe. Doch im Gegenteil: Vor der Tür sammeln sich sogar einige Kisten, groß wie Umzugkartons. Auf ihnen ein Zettel: "Liebe Lisa, sei doch mal so gütig und besorge dir bei uns den Schlüssel, um deinen Saustall wieder auf Vordermann zu bringen...! Deine besorgten Eltern" Ich weiß gar nicht, was die haben. Wahrscheinlich war der Verwesungsgestank zu intensiv, die angesiedelten Ratten zu laut. Ich mag Unordnung. Finde trotzdem stets alles. Wenn fremde Leute nicht denken, sie müssten unbedingt aufräumen, so dass der eigene Bewohner sich selbst nicht mehr auskennt. Menschen, die Ordnung halten, sind nur zu faul zum Suchen. So! Und Unordnung fordert und beansprucht viel mehr Gehirnkapazität als bei Normalsterblichen. Schließlich muss man sich reichlich kreativere Versteckmöglichkeiten ins Gedächtnis rufen oder logisch erschließen. Und räumlich denken. Nicht nur in Schubladen oder Schränken oder Kisten, sondern zufällig auch in "unter dem roten Pulli in der vorderen rechten Ecke" oder "irgendwo zwischen der Lage mit dem Löschpapier und der mit den getrockneten Veilchen, an dem Tag muss ich die beiden Dinge in der Hand gehabt haben...". Phantasie ist gefragt. Der ganze Mensch. Unordnung ist etwas Tolles. Und Soziales für Mutter und Mäuse, damit beide Fraktionen innerhalb des Beschäftigungstherapieprogramms nicht unterfordert werden. Man kann ja nicht immer nur an sich denken. Insofern warte ich auf den nächsten Besuch von Oma Hilde. Denn dann gibt es wenigstens Geld für die Mühe des Aufräumens. Und solange kann ich ja bei Marei einziehen. Die hat nämlich heute Besuch. Von ihrem Onkel...

von Lisa Rudolf