Clever Reisen - oder: Wie ich von Berlin nach Hannover wollte

"Also die Bahn!!! Für mich sind das alles Schlitzohren! Alle, wie sie da sind! Alle! Von wegen Bahn-Card, halber Preis, das ist doch nur eine raffinierte Werbelüge, um davon abzulenken, dass in Wirklichkeit alle, die keine Bahn-Card haben, eigentlich den doppelten Preis bezahlen! Aber nicht mit mir. Ich weiß mich zu wehren!"

Robert war in seinem Element. Sein Element und liebstes Gesprächsthema war wie immer: Wie der clevere Robert den fiesen Geschäftemachern und Halsabschneidern allüberall durch seine überragende Intelligenz immer wieder ein Schnippchen schlägt. "Wenn ich beispielsweise nach Hannover muss, kaufe ich immer nur eine Karte bis Wolfsburg und schlafe dann im Zug überraschend unmittelbar vor Wolfsburg ein. Wenn dann hinter Wolfsburg der Schaffner durch unser Abteil geht, schrecke ich auf und schreie Oje, oje, in Wolfsburg da musste ich doch raus. Oje, oje. Der Schaffner tröstet mich, sagt, ich soll einfach von Hannover aus zurückfahren, drückt ein Auge zu, ich fahre von Wolfsburg bis Hannover umsonst und hab ganz schön Geld gespart. Paar Mark zwar nur, aber das läppert sich."

Interessanter Plan. In zwei Tagen musste auch ich nach Hannover. Roberts Bahnplan schien erprobt, was sollte da schon schiefgehn. Und so cool und ausgefuchst wie Robert war ich ja wohl schon lange. Am nächsten Tag kaufte ich mir eine Fahrkarte nach Wolfsburg.

Die ganze Nacht vor meiner Abfahrt tat ich kein Auge zu. Viel zu aufgeregt war ich aufgrund meines unmittelbar bevorstehenden großen Coups. In der U-Bahn auf dem Weg zum Bahnhof bewahrte ich mein Pokerface. Niemand in meinem Waggon hatte auch nur die geringste Ahnung, mit welch brillant kriminellem Genie sie da U-Bahn fuhren. Lässig bestieg ich am Bahnhof Zoo den Zug und überreichte dem Schaffner meinen Fahrschein.

"Sie fahren bis Wolfsburg?"
"Ganz genau."
"Das ist ja prima. Hee, komm mal her." Er winkte einen kleinen Jungen heran.
"Das Kind reist allein und muss auch nach Wolfsburg. Hier Junge, der nette Mann kümmert sich bestimmt um dich und passt auf, dass du in Wolfsburg mit ihm aussteigst."

Mein wasserdichter Plan bekam plötzlich undichte Stellen. Der Schaffner war zufrieden und zog von dannen.

Das Kind begann zu plappern: "Ich heiße Tim und du?"
"Sag ich nicht. Aber wenn du willst, kannst du mich ruhig: Der große, dumme Mann nennen."
"Okay. meine Eltern holen mich am Bahnhof ab. Was machst du in Wolfsburg?"
"Auf den Zug nach Hannover warten."
"Aber dieser Zug fährt doch auch nach Hannover!"
"Ich weiß."
"Bist du traurig?"
"Geht so."
"Na, da ist es ja gut, dass der Schaffner mich zu dir gebracht hat. Da kann ich dich ja vielleicht ein bißchen aufheitern."
"Hör zu, ich sag dir kurz vor Wolfsburg Bescheid, damit du da aussteigst; und du läßt mich hier im Zug schlafen. Okay?"
"Aber dann verpasst du Wolfsburg."
"Ich glaube nicht, dass ich da was verpasse."
"Aber der Schaffner hat gesagt, du steigst mit mir in Wolfsburg aus und passt auf mich auf."
"Das ist mir egal."
"Gut, dann geh ich zum Schaffner und ... "
"Du gehst nicht zum Schaffner!"
"Nur wenn du mit mir aussteigst?"
"Na gut, wir werden ja sehen, wer sich durchsetzt."

Als wir in Wolfsburg aussteigen, sind keine Eltern am Bahnhof.

"Und? Wo sind jetzt deine Rabeneltern?"
"Ich weiss nicht, vielleicht warten sie am Bahnhof in Gifhorn."
"Gifhorn?"
"Da wohnen wir. Bringst du mich dahin?"
"Den Teufel werd ich tun. Ich bring dich jetzt zur Bahnhofsaufsicht, da kannst du ein paar Stunden bleiben und wenn sich deine Eltern dann immer noch nicht gemeldet haben, kommst du in ein schönes Heim, wo du mit vielen Kindern spielen kannst."

Der Kleine fängt an zu weinen. Die anderen Passanten bleiben stehen und beobachten uns. "Immer sagst du, ich soll ins Heim, Papa."
"Nenn mich nicht Papa."
"Doch Papa. Dabei bin ich dir nur nachgefahren, damit du nicht wieder alles Geld vertrinkst und Mama die ganze Nacht weint."
"Hör jetzt auf."
"Nein, bitte hau mich nicht!"

Die Menschenmenge wird zu einer Zusammenrottung und beginnt tieftonig zu grummeln. Obwohl ich mich nicht wie der Klügere fühle, gebe ich nach, drücke Tim, so fest ich nur kann, an mich und beginne zu weinen. Dazu brauch ich mich nicht mal zu verstellen.

Vom Fahrplan erfahre ich, dass der Regionalzug nach Gifhorn in 40 Minuten fährt. Naja, wo ich schon mal hier bin, kann ich mir dann auch solange mit Tim Wolfsburg anschauen. lch suche mir einen Passanten, der nicht bei der Menschenmenge dabei war, und frage ihn nach dem Weg zur Stadt. Er starrt mich an. Ich frage nochmal. Er starrt mich immer noch an. Ein drittes Mal: "in die Stadt, ist das lang zu laufen, oder ist das gleich hier am Bahnhof?"
"Nee, da vorm Bahnhof ist nur Wolfsburg. Wenn Sie in die Stadt wollen, steigen Sie am besten in den Zug nach Hannover."

Auch unser Regionalzug fährt über Gifhorn nach Hannover. Na immerhin. Unser Zug hat nur 25 Minuten Verspätung, so dass wir gerade mal eine Stunde warten müssen. Das ist Glück. Der Regionalzugschaffner ist für einen Norddeutschen überraschend redselig.
"Soso, von Wolfsburg kommen Sie?"
"Naja, genau genommen von Berlin." Er grinst.
"Verstehe, kenn ich, solche ham wir oft. Und kurz vor Wolfsburg konnten Sie einfach nicht einschlafen, was?"

Soviel zu Roberts brillantem, geheimen Supertrick. Klar, war auch viel Pech bei. Trotzdem bin ich mittlerweile skeptisch, ob ich auch seinen zweiten Supertrick, durch den einmaligen Erwerb einer gebrauchten Wachschutzuniform mit Schäferhundattrappe jahrelang Gebühren der Berliner Nahverkehrsbetriebe zu sparen, unbedingt ausprobieren sollte.

von Martin Müller